Selbstversuch Autofahren in China
Hier wird Autofahren zur Qual

Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich China zu einer der wichtigsten Wirtschaftsnationen der Welt entwickelt. Wie es sich anfühlt zur Rush Hour im chinesischen Verkehr unterwegs zu sein, hat Redakteur Henning Busse ausprobiert.

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Foto: Mercedes

Sie stehen so dicht gedrängt, dass kein Blatt Papier mehr dazwischen passt. Es stört niemanden, zumindest keinen Einheimischen. Die Köpfe sind gesenkt. Kollektiv. Was wie eine Geste wirkt, hat einen anderen Grund. Einen, den die moderne Gesellschaft nur zu gut kennt: Die Augen scheinen in einem weißen Licht zu versinken. Sobald die Türen der U-Bahn schließen, zählt für die Menschen nur noch das Smartphone. Alltag in Shanghai.

Wer in China die öffentlichen Verkehrsmittel zur Rush Hour nutzt, erlebt das jedes Mal. Die Einheimischen sehen ihr Handy fast schon wie ein Körperteil an und nutzen es mindestens doppelt so oft am Tag wie wir – dagegen sind wir in Deutschland keine Smombies (SMS-Zombies), wie es uns eine Jury mit dem Jugendwort im Jahre 2015 weiß machen wollte, sondern eher Smeens (SMS-Teens). Die Menschen vertreiben sich die wenig reizvolle Bahnfahrt mit chatten, surfen oder shoppen im Internet – Zeit totzuschlagen, darin haben die Chinesen Routine.

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Autofahren wird in China vom Staat reguliert

Was bleibt ihnen auch anderes übrig. Autofahren können nicht alle in China, was nicht am Können liegt. Eher daran, dass die Freiheit auf vier Rädern eine staatliche regulierte Geschichte ist. Anders als in Deutschland kann man nicht einfach ein Auto anmelden, die Menschen „müssen einen Antrag stellen“, sagt der junge Chinese, der sich als Adam vorstellt. Sein wahrer Name sei zu schwer auszusprechen für einen Europäer – daher schlicht und einfach: Adam. Also gut. Der Mann aus Shanghai mit dem englischen Namen erzählt, dass die Anträge für ein Fahrzeugnummernschild dauern können. Er habe Glück gehabt, er hat ein Auto. Ein guter Freund aus Peking dagegen wartet schon seit vier Jahren auf die Zuteilung, obwohl das Geld da sei.

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Mercedes
Bevor man sich in China als Ausländer hinters Steuer setzt, muss man seine Fahreignung nachweisen und warten. In chinesische Behörden geht es wie auf Volksfesten zu.

Einen Ausländer interessiert das nicht. Er hat andere Sorgen, denn im Land des Lächelns darf man sich trotz eines gültigen Führerscheins seines Heimatlandes nicht einfach ans Steuer eines Autos setzen. Das verspricht viel Ärger, da verstehen die chinesischen Behörden keinen Spaß. Ein Fahrzeug bewegen ohne eine nachgewiesene Eignung – das geht mal gar nicht. Ok, dafür gibt es ja den ausländischen Führerschein, den in Deutschland jedes Straßenverkehrsamt mit Freude gegen eine Gebühr ausstellt. Den interessiert allerdings in China niemanden. Das ist nur bedrucktes Papier mit wenig Aussagekraft. In China muss der Ausländer seine Fahreignung nachweisen. Für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten reicht eine vorläufige Fahrerlaubnis. Die zu bekommen dauert fast einen halben Tag, nachdem die Bürokratie, ein Medizincheck und ein Aufklärungsunterricht durchlaufen worden sind.

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Mercedes
Nach rund einen halben Tag hält man seinen chinesischen Führerschein in Händen.

Erst dann darf man sich hinters Steuer eines Autos setzen – genau genommen hinter das Lenkrad eines Mietwagens, mehr wird nicht zugebilligt. Zum Glück steht eine Mercedes E-Klasse parat. Nicht irgendeine, sondern eine Ausführung, die es in Deutschland nicht gibt. Zum einen ist sie 14 Zentimeter länger, zum anderen stammt das Interieur aus der S-Klasse. So reist man gerne in China. Doch die Freude darüber währt nicht lang, kaum losgefahren kommt der Vortrieb zum Erliegen – Stau. Es reift die Erkenntnis, dass die staatliche Regulierung einen tiefgehenden Grund hat.

Mobilität wächst rapide

Und so ist es. Viele sind in der Lage, sich ein Auto zu leisten, da das Wirtschaftswachstum gerade in den letzten Jahren den Wohlstand förderte. Diese Entwicklung hat auch Deutschland in Zeiten des Wirtschaftswunders genommen, nur ist das Tempo in China bedeutend höher, als es die Infrastruktur des Landes verkraften kann. Staus in den Städten sind quälender Alltag. Sie kosten Zeit – viel Zeit. Ein paar Zahlen verdeutlichen das sehr anschaulich: Bei uns liegt im Straßenverkehr die Durchgeschwindigkeit bei 50 km/h, in China dagegen nur bei 29 km/h. Während wir in Deutschland gerade mal 50 Minuten am Tag im Fahrzeug sitzen, verbringen die Chinesen fast zwei Stunden im Auto – das ist so in fast jeder Großstadt, von denen es gleich einige in China gibt: 304 haben mehr als eine Millionen Einwohner, 31 sogar mehr als acht Millionen. Zum Vergleich: In Deutschland gibt es nur vier Städte, die über die Millionenmarke kommen. Vielleicht sollte man anmerken, dass die Bevölkerungszahl im Reich der Mitte mit 1,4 Milliarden Menschen rund 17 Mal größer ist als bei uns und immerhin noch fast doppelt so groß wie in ganz Europa.

Das Spannungsfeld könnte nicht größer sein in den Metropolen. Der Staat sah sich gefordert, dagegen etwas zu tun und hat sich einiges einfallen lassen. Da wären die Zufahrtsbeschränkungen: Der Staat regelt genau, welche Kennzeichen wann fahren dürfen, um es einfach zu machen, wird auf die letzte Ziffer geachtet – unterschieden wird zwischen gerader und ungerader Zahl. Außerdem muss man viel Geld mitbringen, denn das Nummernschild kostet je nach Stadt bei zu 100.000 Yuan, umgerechnet rund 13.000 Euro. Auch wenn die Mittel vorhanden sind, bedeutet das nicht, dass sofort die Zuteilung erfolgt. Nach einer Quote werden die Kennzeichen vergeben, was die Wartezeiten erklärt. Bei rund 20 Millionen Neuzulassungen kommt die Deckelung, was im Gegensatz zu unseren drei Millionen jährlichen Fahrzeuganmeldungen immer noch unglaublich klingt. Nicht so in China, wo man davon ausgeht, dass rund 700 Millionen gerne mit dem eigenen Auto unterwegs sein möchten. Falls dieses Ziel erreicht ist, hätte das Reich der Mitte eine ähnliche Fahrzeugdichte wie Deutschland, die derzeit bei 560 Pkw pro 1.000 Einwohner liegt. Bis es soweit ist, vergeht noch Zeit – in China sind erst 75 Autos pro 1.000 Einwohner zu verzeichnen. Das gibt dem Staat Zeit, die Infrastruktur dem Ansturm anzupassen.

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Mercedes
In China fahren die Roller elektrisch. Manchmal muss man wegen der geräuschlosen Antriebe schnell auf den Beinen sein, will man nicht umgefahren werden.

Ohne Mut geht nichts im Verkehr

Und das ist auch gut so. Schon jetzt verlangt einem die Fahrt durch die Städte viel Geduld ab. Für regeldevote Deutsche ist es ein hartes Stück Arbeit. Viel Rücksicht wird nicht genommen. Freundlich Platz machen? Fehlanzeige! Reißverschlussverfahren? Was ist das? In China wartet niemand auf eine Lücke. Da der Verkehr versucht, immer im Fluss zu bleiben, passen sich die Wartenden an den Kreuzungen und Einmündungen an – sie hupen und fahren einfach los. Es kommt ein Hupen von demjenigen zurück, der abbremsen musste. Das war’s, mehr passiert nicht.

Es hat dagegen schon etwas mit Glück zu tun, in keinen Unfall mit einem der unzähligen Rollerfahrer in den Städten verwickelt zu werden. Sie gibt es mehr als Autos, mit etwa 200 Millionen Einheiten ist die Zahl im Verkehr doppelt so hoch. An Regeln halten sich die geräuschlosen Fahrer nur selten – geräuschlos deshalb, weil in China nur E-Roller im Verkehr unterwegs sind. Aber auch hier gilt: Hupen hilft immer.

Das ist eine der größten Sorgen im Stadtverkehr, die Sorge vor Bußgeldern ist dagegen bei dem zähfließenden Verkehr gering. Die oftmals erlaubten 60 km/h erreicht man selten. Das spart Geld, denn Tempovergehen werden schnell geahndet. Überall in den Metropolen sind Speed-Kameras angebracht. Genau zwölf Punkte dürfen sich Autofahrer – und damit sind auch Ausländer gemeint – im chinesischen Verkehr erlauben, dann ist der Führerschein weg und es ist eine Nachschulung fällig. Außerhalb der Städte nimmt die Verkehrsdichte rapide ab. Hier kann man schnell Punkte sammeln, wenn man sich nicht an die 120 km/h auf den Autobahnen hält. Autofahren in China ist ein Erlebnis.

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AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
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Erscheinungsdatum 08.05.2024

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